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Die Scham-Identität auf dem Weg der Heilung


Vorab: Dies ist ein Beitrag der Friedenspost März 2025: Ein Friedensbeitrag in dieser Welt ist die Heilung alter Wunden. Die Aussage "Die Zeit heilt alle Wunden" ist aus meiner Sicht falsch, insbesondere dann, wenn die Verletzung sehr früh im Leben stattfand und die Entwicklung der Identität betrifft. Daher geht es diesmal im Artikel zur Friedenspost um das Thema Entwicklungstrauma, Scham, Selbstregulation und Nervensystem... 


Eine der großen Wachstumszonen bei der Arbeit mit Entwicklungstrauma ist die Selbstregulation, der Umgang mit Schuld & Scham und die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse. Der Prozess der Heilung und des Wachstums ist jedoch individuell und verläuft bei jedem unterschiedlich. Daher findest du in diesem Artikel auch keine konkreten Tipps, stattdessen Hintergrundinformationen und Materialien (s.u.), die zum Verständnis beitragen, und dich auf deinem Heilungs-Weg unterstützen können (wenn es dich betrifft).


Scham & Identität


Scham- und Schuldgefühle haben starke Auswirkungen auf unser Selbstbild und unsere Beziehungen. Manchmal reicht die Scham sogar bis an die Wurzel unserer Identität. Das Gefühl einer lebenslangen Scham- und Schuld entwickelt sich häufig als Reaktion auf sehr frühen körperlichen und emotionalen Stress, der durch eine unzulängliche Einstimmung der Umgebung auf die kindlichen Bedürfnisse hervorgerufen wurde. Folgen sind eine verzerrte Identität und häufig Probleme mit der Fähigkeit sich selber zu regulieren.



Hintergrund-Wissen für den Weg der Heilung 


Wir alle haben eine aufrichtige, tiefe Sehnsucht, unser Leben zu heilen. Wir sehnen uns danach, Heilung, Ganzheit und körperliche Gesundheit zu erfahren. Wenn Menschen zu mir in Therapie oder ins Coaching kommen, wollen sie meist Werkzeuge und Methoden mit deren Hilfe sie sich von alten, schädlichen Mustern befreien können. Sie wollen verständlicherweise Resultate. Dauerhafte Resultate. Doch in vielen Fällen reichen Verstand und Willenskraft beim Einsatz dieser Methoden nicht aus...


Bei einem Entwicklungstrauma: Wenn Menschen ein sehr frühes Entwicklungstrauma erfahren haben, haben sie traumatisierte Anteile in den Gehirnteilen des limbischen System (= emotionales Gedächtnis) und Reptiliengehirn/ Stammhirn (= zuständig für unser Überleben) gespeichert. Diese verwundeten Teile sind mit dem Neocortex (= bewussten Verstand) nicht oder nur teilweise zugänglich. Bei der Heilung ist das hilfreich zu wissen: Du findest hierzu eine Übersicht bei den Präsentationsfolien, welche die Gehirnteile und ihre Aufgaben bildlich darstellen. 


Top-Down (Neo-Cortex, bewusster Verstand) - Bottom-Up Hijacking (Stammhirn, Trauma)


Wir können nicht allein mit unserem Willen und Verstand nachhaltige Veränderungen erzielen, weil unsere Innenwelt nach anderen Gesetzmäßigkeiten funktioniert. Wenn wir z.B. in der Vergangenheit unangenehme Gefühle und Bedürfnisse verdrängt haben, baut das in der Tiefe den sog. Schmerzkörper auf. Dieser Schmerz kann durch bestimmte Umstände getriggert werden, und es kann zu einem sog. Bottom-Up Hijacking kommen. Beim Bottom-Up Hijacking wird unser bewusster, frontaler Neocortex quasi "überschrieben", und wir tun Dinge, die wir eigentlich gar nicht tun wollen. 



Boden der Kindheit: Von der Co-Regulation zur Selbstregulation


Die Fähigkeit zur Selbstregulation entwickelt sich in den ersten drei Lebensjahren. Sie entsteht in der Verbindung der Mutter zum Kind. In dieser Zeit ist das Nervensystem des Babys noch nicht voll ausgebildet. Das bedeutet, das Baby ist darauf angewiesen, dass die Mutter oder Bezugsperson es mit ihrem Nervensystem reguliert (= Co-Regulation). Die sichere Bindung, die Zugewandtheit und der Blickkontakt der Mutter sind für die Entwicklung der Regulationsfähigkeit beim Baby elementar wichtig. Ist der Regulierungsprozess zwischen Mutter und Baby aus welchem Grund auch immer gestört, lernt das Baby nicht, sich selbst zu regulieren.



Unterscheidung: Gesunde Scham und toxische Scham


Was ist eine gesunde Scham? Und wann wird Scham toxisch? Unterscheidung bringt Klarheit ...

Während wir die gesunde Scham in der Regel nur kurzfristig fühlen, ist die toxische Scham langanhaltend und tief in unserer Haltung verwurzelt. Die gesunde Scham regt zur Selbstreflektion und Selbstbeobachtung an, während die toxische Scham uns das Gefühl vermittelt, wir seien falsch. Die gesunde Scham hilft uns z.B. dabei unsere Grenzen und Fehler zu erkennen und auf authentische Art, jemanden um Verzeihung bitten, während die toxische Scham innerlich zerfleischt. Es ist also eine Sache der Balance: zu viel Scham macht perfektionistisch, unsicher, zweifelnd. Zu wenig Scham: Egozentrisch, selbstherrlich, unfähig, sich zu entschuldigen. 


Die Überlebensstrategie der schambasierten Identität: "Wenn ich meine Bedürfnisse zeige, werde ich verlassen" - diese falsche Grundüberzeugung kann Teil einer Überlebensstrategie sein, die das Kind entwickeln musste, um eine gestörte Bindungsbeziehung aufrechtzuerhalten. Und paradoxerweise wird genau diese Überlebensstrategie, die dem Kind einstmals geholfen hat, dann im Erwachsenenalter zur Ursache seiner Probleme. Es gibt jedoch Wege, um aus dem Kreislauf der Not in den Kreislauf der Heilung einzutreten ... 


Übersichten: Kreislauf der Not und Kreislauf der Heilung


An dieser Stelle möchte ich dir ein paar Übersichten mitgeben, die zum besseren Verständnis beitragen können. Diese Übersichten basieren auf dem NARM-Modell (Neuro-Affektives Beziehungsmodell), an welchen ich mich bei der Arbeit mit Entwicklungstrauma orientiere. Bei Entwicklungstrauma steht bei mir die Ressourcenorientierung und das Erlernen der Selbstregulationsfähigkeit (Bottom-Up) im Vordergrund. Die persönliche Vorgeschichte wird nur im Hinblick auf früh im Leben erlernte Bewältigungsmuster (Top-Down) erforscht, die sich störend auf die Verbindung mit uns selbst und andere auswirken. 


Weiterführende Infos: Bindungs- und Entwicklungstrauma ist ein großes Feld. Ich habe hierzu schon einige Artikel geschrieben. Hier findest du noch einen Artikel zu Bindungstrauma und Überlebensstrategie. Und ein gutes Erklärvideo, was bei Stress und Trauma im Nervensystem passiert, sowie Möglichkeiten zur Co- und Selbstregulation findest du hier: Trauma and the Nervous System: A Polyvagal Perspective 


Hinweis zu 3 Tages-Events


In der Friedenspost "Mit Bottom-Up zur Lebenskraft", habe ich noch 3 Tages-Events angekündigt. In diesen Events wird auch das Thema Lebensfluss und Selbstregulation vorkommen - mit Übungen aus der Praxis. Selbstregulation ist die Fähigkeit, sein Nervensystem in Balance zu halten oder in Balance zu bringen. Um wieder im natürlichen Lebensfluss zu sein, und gut in Verbindung mit sich selbst und anderen zu sein, brauchen wir die Kraft einer gesunden Selbstregulationsfähigkeit. Du findest den Link zu den 3 Events auf meiner Praxis-Website unter: www.sylvia-roemer.de/seminare/